Atlantik Kanaren - Kapverden 2012

 

Atlantik Azoren - Coruna 2013

 

 

 

 Unumsaga.

Das Feuertor

  

Mystic-Thriller

 

Von Hermann Engl

 

 

© 2006 Copyright by Hermann Engl

83607Holzkirchen

e-mail:  unumsaga@gmx.de

 

Inhalt:

 

 

Arechmas Tat 3

Ronsch 10

Stalky und Carola 15

Laura und das Haus 19

Ankunft 26

Empfang 29

Das Innere 37

Begegnung 43

Die Nacht bricht an 58

Einer fehlt 61

Draussen 74

In dunkler Höhe 75

Das Feuertor 75

Verrat 76

Die Spur 76

Das Protokoll 76


Arechmas Tat

 

Die schwere Türe aus dunklem Eichenholz fiel so heftig krachend in das kunstvoll geschmiedete Schloss, dass die gelblich trüben Glasscheiben aller drei Fenster des Kaminzimmers in ihren Bleirahmen klirrten. Arechma zuckte zusammen. Ihre Hände umklammerten die hohe kunstvoll verzierte Lehne ihres Sessels, hinter dem sie Zuflucht gesucht hatte. Der Thron stand nahe bei einem der Fenster. Die Fürstin sah zu German hinüber.

 

Wie versteinert verharrte der Kanzler aufrecht an der Tafel vor dem lodernden Kaminfeuer. Er senkte den Blick zu dem umgestürzten Stuhl vor seinen Füßen, während im angrenzenden Raum hinter der Eichentür die harten Stiefelschritte ihrer forteilenden Besucher verklangen. Dann war eine Stimme zuhören. Unverkennbar, die des Herzogs.

 

Arechma verstand die Worte nicht, aber der scharfe Ton, mit dem ihr Vetter sich den Weg bahnte durch das Vorzimmer hinaus in die Treppenhalle, setzte überdeutlich die Stimmung fort, in der das Mahl geendet hatte. Die Flügeltür der Vorhalle krachte nicht weniger heftig ins Schloss.

 

Ihre Hände wollten zittern. Arechma vermied es, in dem sie die Finger in die Schnitzerei ihres Throns krallte. In hitzigen Atemstössen hob und senkte sich ihr Busen im engen Mieder. Hitze rann ihr den Nacken hinab vom Ansatz der rötlich schimmernden dunklen Haare über den bleichen schlanken Hals unter den weißen Spitzenkragen bis zur schlanken Taille. Der lange rosa Rock, der reich bestickt und in sorgsam gelegten Falten bis auf den kostbaren Teppich fiel, er machte sie zur Statue.

 

Die Szene dieses plötzlichen Abschieds hing im Raum wie eine unheilvolle Wolke. Ja, sie würde streiten für das Glück ihrer Tochter und des ganzen Geschlechtes. Insgeheim hatte sie dieses Ende befürchtet. Aber es war noch schlimmer gekommen. Was als familiäres Treffen begonnen hatte, mündete in ein Erdbeben, das eine abgründige Schlucht aufriss. Der Vetter war wutentbrannt aufgesprungen, hatte seinen Sessel hinter sich umgestoßen und war mit der Hand am Schwert auf sie zugegangen. Auch sie war aufgesprungen und hatte sich hinter die Lehne ihres Throns geflüchtet, der am Ende der langen Tafel stand.

 

Der Tisch war bedeckt von den Resten des Mahls. Silbernes und zinnernes Geschirr, halbleere Becher, tönerne Krüge, Teller voll von Essensresten, angebrochenem Brot und übrig gebliebenen Früchten. Gegenüber, in der mannshohen Feuerstelle loderten die Flammen über den rot glühenden, knisternden Scheiten. Die schlierigen Glasfenster ließen nur gelblich gedämpftes Licht in den hohen Raum. Dabei strahlte draußen ein sonniger Herbsttag.

 

Arechma führte die rechte Hand unwillkürlich an ihre schmal gepressten Lippen, als ihr die Erinnerung seine Worte wieder ins Ohr hämmerte: »Niemals, Base, niemals werden wir dieser Verbindung zustimmen. Niemals. Wir werden nie erlauben, dass neben uns ein Riese erwacht und unser und unserer Nachkommen Länder zerdrückt. Sucht und findet einen anderen Spunt für Euren Balg. Unser Heer steht und wir sind zum Zug bereit. In sieben Tagen schon, nach meiner Rückkehr, ich versprech’s Euch, brechen wir auf. Meine Antwort ist Nein, Base.«

 

Sprach’s mit donnernder Stimme und stürmte hinaus, gefolgt von Welmar vom Bohlberg, einem seiner Getreuesten und dem wohl bewaffneten Knappen.

 

Das Bild war noch gegenwärtig, wie er da stand, hoch aufgerichtet am Tisch, die scharfe Nase bleich, von zornroten Wangen umgeben, die sich in schwarzen Bartstoppeln verloren. Die dunklen Augen sprühten Entschlossenheit und das dichte schwarze Haar, das schimmernd auf die Schulter fiel, flog heftig bei jeder Bewegung.

 

Sie kannte sein Wesen. Seine Energie hatte sie von je her gefürchtet. Wirklich gefürchtet? Als Knabe und Jüngling hatte sie ihn erlebt. Sie waren einander bei den seltenen Zusammenkünften der weit verzweigten Familie begegnet, scheu zumeist voreinander zurück gewichen. Seine aufbrausende Kraft, seine Entschlossenheit aber hatten auch immer etwas Anziehendes, Saugendes, wie ein mächtiger Strom, der kleinere Flüsse mit sich reißt und dem sie sich mit all ihrem Wasser ergeben müssen.

 

Der Jüngling noch hatte gebuhlt um sie. Es lag Jahrzehnte zurück, aber es gibt Augenblicke, die bleiben ein Leben lang gegenwärtig und leuchten aus der Dunkelheit des Vergangenen. Seine glühenden Augen beim Tanz, als sein Vater die zweite Frau genommen hatte auf Burg Roggesau. Seine Mundart hatte sie kaum verstehen können damals, doch das Raunen und Flüstern alleine hatten ihr an jenem Herbstabend einen heißen Schoß beschert. Sie hatte sich retten können, bevor sie sich seinen starken Armen vollends ergeben hätte. Ein aufregender Gipfel im Gebirge der Erinnerungen an ihre Mädchenzeit.

 

Das jüngste Treffen auf dem Rittergut ihrer Familie draußen im Halberland, ihrer sanfthügeligen Heimat, lag sieben Sommer zurück. Der Vetter hatte seinem Vater die Macht entwunden und sich feiern lassen im ganzen Land als neuer Chef des Hauses Roggesau. Einem Sturmwind gleich war er nach Hochmerlberg gekommen mit fünfzig Mann, um auch ihrer Mutter, der Schwester seines Vaters und deren Ehemann, dem Grafen von Halberland, seine Macht kundzutun.

 

Purer Zufall, dass Arechma mit ihrem Gatten, dem seligen Fertal von Belmeringen ebenfalls in Hochmerlberg weilte. Die Obhut Fertals über sie lag da längst wie ein unüberwindlicher Damm zwischen Artman und ihr. Aber Fertal, selbst getrieben von unbeugsamer Willenskraft, hatte früh den Rivalen im Land gewittert. »Der junge Roggesau«, hatte er knapp und finster bemerkt, »der wird einen steilen Weg gehen. Nur fragt es sich, ob nach oben oder unten«. Sein Freund war Artman nie geworden.

 

Dies alles im Gedächtnis hatte sie insgeheim diesen Auftritt gefürchtet, seit dem sie den Kurier des argonadischen Hofes beschieden hatte, sie würde einer Werbung des Prinzen um die Hand Ankas, ihrer Tochter mit mütterlichem Wohlwollen entgegensehen.

 

Die rehäugige Anka. Sie war nicht nur schlank wie das flinke Wildtier, sondern ebenso scheu. Nach Merchmos plötzlichem Tod blieb es an ihr, den Fortbestand des Herzogtums zu gewährleisten. Der Unfall ihres 26jährigen Bruders war immer noch nicht schlüssig aufgeklärt, aber nicht mehr zu ändern. Nun ruhten die Hoffnungen der Familie auf ihr. Die Verbindung mit dem mächtigen Reich Argonada würde Hohen Belmeringen reichen Nutzen bringen, so dachten Arechma und ihr Hof.

 

In Windeseile war die Nachricht in den Roggesau gelangt. Hatte sie es gewusst oder nur geahnt, wie der Vetter auf die Botschaft reagieren würde? Sie wollte Sicherheit. Mehr noch. Sie hoffte, ihn für den Gedanken einer großen Allianz gewinnen zu können. Deshalb hatte sie dieses Familientreffen arrangiert.

 

Es war ein Fehler gewesen und sie wusste es beim ersten Anblick Artmans. Als er vor zwei Tagen mit seiner Begleitung eingetroffen war, ließ es fast ihr Blut erstarren, was sie in seinen Zügen lesen mußte, ehe er überhaupt ein Wort gesprochen hatte: Eine harte Bitternis lag um seine sonst so anmutig vollen Lippen und Härte stach aus seinem Blick. Sie waren sich in der Vorhalle begegnet, wo die Begrüßung nach dem Brauch der Familie zu vollziehen war.

 

Artman hatte sich gönnerhaft für die Einladung bedankt, als würde er Arechma eine besondere Gunst erweisen mit seiner Anwesenheit. Deshalb hatte sie diesen Satz ausgesprochen. Worte, die nicht zu den Sternen passten, denen sie das Treffen anvertrauen wollte. Sie, die Herzogin von Hohen Belmeringen hatte ihn zu sich kommen lassen. Sie hatte ihn hierher zitiert, um ihm ihre Entscheidung kundzutun. In jeder Geste in jedem Trinkspruch leuchtete von nun an der Gegensatz ihrer beider Ansprüche auf, in sprühenden Funken. Und jeder davon war in der Lage, ein prasselndes, gefräßiges Feuer zu entzünden. Nun, beim Festmahl im kleinen Kreis, war der Vulkan explodiert.

 

Sie bebte vor Zorn. Das hieß aber nicht, sie hätte ihre Fassung verloren. Sie zog die feinen Brauen in ihrem blassen Gesicht hoch, sah über die Lehne hinweg zu German hinüber. Ihre dunkelbraunen Augen blitzten von Energie. Jetzt war es an der Zeit zu handeln. Jetzt oder nie. Entweder die Niederlage erwarten oder sofort und entschieden der Fehde die Spitze nehmen und kühn das Schicksal wenden. Es durfte nicht statthaft werden, sich ihrer Macht zu widersetzen. Auch und gerade nicht für Artman. Alles, was sie zu tun hatte war, das Zeichen zugeben. Sie musste nur das Zeichen geben.

 

Der Hüne im pelzbesetzten Lederwams stand wie eine Skulptur. Die Worte waren kaum verhallt. Worte, die nicht nur Arechmas Würde verletzten, sondern das Ende ihrer Herrschaft besiegelten, sollten ihnen die Taten folgen, die sie verkündeten. So dachte er und entsprechend wütend war auch er aufgesprungen, als Artman von Roggesau laut und unziemlich geworden war. Früher, als ihm das Handeln noch näher lag als das Nachsinnen, hätte er sich auf ihn gestürzt, ihn sogleich in seine Schranken gewiesen. Nun verfügte er über andere Mittel, die Überlegenheit des Jüngeren auszugleichen. Dennoch wollte seine Hand das Schwertziehen, seinen vielfach erprobten  Scherumar.

 

Er besann sich und stand wie erstarrt an der Stelle, wo der Herzog den schweren Sessel umgeworfen hatte im Eifer der Debatte.

 

Flehen, Bitten, Drohen, nichts hatte gefruchtet. Die Fehde verhindern, den Heerzug vermeiden, das war ihr Ziel gewesen, seines und ihres, seiner Herrin. Der herzogliche Vetter aber hatte sich vollkommen uneinsichtig, unbelehrbar gezeigt, nur auf seinen Vorteil bedacht. Warum sah er nicht die Chancen, die sich aus der Verbindung Ankas mit Orwin, dem Sohn des Herzogs von Argonada  ergaben? Sie ablehnen, hieß die Feindschaft fortführen, hieß Krieg. Und der würde die Herrschaft Arechmas früher oder später zermalmen.

 

Nein, er wusste es so gut wie sie: der Herzog durfte Hohen Belmeringen nicht verlassen. Er nicht und keiner seiner Gefolgsleute. Der Aufruhr musste im Keim erstickt werden. Fünf Tage brauchten sie, um die erste Burg der Herrschaft von Roggesau zu erreichen. Noch einmal zwei, um auf  der Veste Roggesau selbst anzukommen. Es durfte nicht geschehen.

 

German hob die Schultern und zog die gerötete Stirn seines kahlen Schädels in noch mehr Falten. Er kannte seine Herrin. Schließlich war sie seine Schülerin gewissermaßen. Er hatte ihrem Gemahl gedient, hatte ihn fallen sehen müssen im Heerzug gegen die plündernden Labodonier im Süden. Ein halbes Dutzend Winter und Sommer waren seither vergangen. Sie hatte gelernt, das Szepter mit fester Hand zu führen, die Schwerter und die Leben ihrer Dienstmänner einzusetzen, wenn es die Not erforderte.

 

Er, German Graf zur Mandelei, hatte seine eigene Burg verlassen, die sich jenseits des Flusses auf dem letzten Sporn des abfallenden Gebirges erhob. Seit unzähligen Generationen wird sie vom Vater auf den Sohn vererbt. Doch er fühlte sich vom Glück im Stich gelassen seit seine Gattin im Kindbett des Drittgeborenen verstorben war. Er hatte wenig später Karlmann, einen vertrauten Rittmeister als Kommandanten eingesetzt und kümmerte sich mehr und mehr um das Herzogtum, dem er Dienstpflicht schuldete.

 

Seit einem halben Dutzend Jahren bewohnte er den kleinen Südflügel auf Hohen Belmeringen. Er teilte ihn mit Akalma, der älteren Schwester seines Freundes Fertal. Sie verließ seit langem ihre Kemenate fast nur noch sonntags zum Besuch der Kapelle. Mehr als achtzig Sommer hatte sie bereits gesehen, war aber seit drei Jahren nahezu völlig erblindet und wurde von zwei Mägden gepflegt, die ebenfalls im kleinen Pallas wohnten.

 

Arechma ließ der Schwägerin besondere Aufmerksamkeit zu teil werden. Er sah es mit Wohlwollen, da er die Sorge seines Freundes um seine Mutter in guter Erinnerung hielt. Das Werk des Freundes fortzuführen war schließlich auch der Antrieb gewesen, nach Hohen Belmeringen zu kommen, um die Witwe zu stützen.

Wie oft hatte sie ihm anvertraut, wie sehr sie ihn sowohl als Kanzler und Burgkommandant, als auch als Lehrer und Vertrauten, ja als Schutzengel schätzte. Und jetzt hatte er ihr diese Szene nicht ersparen können.

 

Das Krachen der Tür in der Vorhalle, das Poltern auf der Treppe löste seine Schreckensstarre und er suchte ihren Blick. 

 

Sie wandte sich dem Fenster zu. In den geschliffenen Diamanten, die das zierliche Diadem in ihrem Haar besetzten, funkelte das matte Licht.

 

German erriet ihre Gedanken und sagte nichts. Jedes Wort über die Demütigung würde nur in der Wunde rühren, würde den Schmerz verschärfen. Mit schnellen langen Schritten durchmaß er den Raum und war schon bei ihr, ehe ihre Hand den Fensterriegel erreichte. Er öffnete das Fenster und sah in den Hof hinab.

 

Halb unter dem schrägen Vordach der Stallungen im Schatten der Nachmittagssonne standen die Rösser der Gäste. Die scharlachrote, gold besetzteDecke auf dem Rücken des Schimmels bezeichnete das Tier des Herzogs. Daneben der Rappen mit dem Silberzeug erwartete ungeduldig seinen Herrn, den Grafen vom Bohlberg. Bei den sechs Braunen hockten und standen fünf der Begleiter, schwatzten mit dem wuchtigen, gebeugten Schmied, den beiden Stallburschen und zwei Mägden.

 

Das äußere Tor war geschlossen und verriegelt. Er sah es über den Mauerbogen des inneren Tores hinweg, sah zwar nur das untere Viertel der beiden eisenbewehrten Torflügel, aber er war sich sicher: es war verschlossen. Das Innere dagegen stand sperrangelweit offen. Die Wache bestand aus zwölf Mann, von denen gegenwärtig nur vier zu sehen waren. Er kannte sie alle, natürlich. Es waren seine Leute.

 

Da saß der Meisterschütze mit dem blonden Bärtchen unter derschmalen Nase, einen Apfel in der Rechten, in den er mit Genuss ein weiteres Mal biss. Den hatte ihm wohl die Rothaarige gereicht, die eben mit einem Korb im Arm durch das innere Tor in den Hof gelaufen kam. Ihr schlichter brauner Rock und das graue Wolljäckchen wehten um ihre schlanke Gestalt. Sie ging eilends zum Wirtschaftsbau hinüber, der sich gegenüber der Stallung befand. Bevor sie um die Ecke bog, wandte sie sich noch einmal um. Dann verschwand sie aus Germans Blick.

 

Jemas sah ihr nach. Er hockte im Torraum auf der hölzernen Bank unterdem spitz zulaufenden Bogen des Torturmes, ein kräftiger Kerl in der Blüte seiner Jahre mit blondem Haar wie Gold. Er trug das dunkelgrüne Wams der einfachen Wehrleute von Hohen Belmeringen. Doch wusste jeder, dass er herausragte aus der Mannschaft. Es fand sich niemand in der Herrschaft der Arechma, der schneller und tödlicher mit der Armbrust umzugehen verstand. Er hatte den Helm abgelegt. Das umgürtete Schwert zeichnete einen schrägen Strichneben seine braunen Stiefel.

 

Neben Jemas lehnte sich Rogar weit zurück, streckte die Füße, die in hohen Schaftstiefeln steckten, von sich und verschränkte die Hände hinter seinen braunen Locken. Ein unerschrockener Kämpfer, dessen Schwert schnell wie der Flügelschlag einer Turmschwalbe den Gegner umschwirrte und ihn zielsicher traf, wenn es denn sein musste. Er lebte mit seinem jüngeren Bruder Bormel auf Hohen Belmeringen.

 

Auch der tat Dienst in der Torwache. Ein ungemein kräftiger Kerl, einen halben Kopf größer als Rogar, mit etwas hellerem Haar und von der Natur mit noch blaueren Augen bedacht als sein Bruder. Von Bormel nahm German nur die Füße wahr. Er saß tiefer im Torturm als die übrigen.

 

Warum auch immer es eben jetzt geschah, es traf sich gut, dass der Torkommandant in seinem purpurrotem Wams den Dreien in diesem Augenblick gegenüberstand und mit ihnen sprach. Über das Thema musste niemand rätseln. Jemas war es, der prompt den Blick hob und zum Pallas herauf sah.

 

Alle auf Hohen Belmeringen wussten, was der Besuch des Herzogs von Roggesau zu bedeuten hatte. Alle waren voll gespannter Erwartung, wie sich die Herrschaften trennen würden. Alle wussten um die Stimmung im nördlich benachbarten Land, und dass es nicht zum Besten stand mit der Harmonie, was die Ansichten über die Verbindung  zwischen Anka und ihrem mächtigen Freier Orwin betraf.

 

Jemas sprang auf die Beine, nahm seinen Helm, schritt aus der Torkammer in den Hof und begab sich zum Eingang des Torhauses.

 

Der Rappe schnaubte und tänzelte auf der Hinterhand zur Seite. Der Schimmel warf den Kopf zurück, soweit das Halfter es zuließ, an dem er angebunden war.

Raumir, der Torkommandant wandte sich um und sah ebenfalls zum Fenster herauf. Er trug über dem Purpurwams seines Ranges wie die anderen Wachleute eine leichte eiserne Brustwehr und dunkle lederne Pantelons, die in engen Lederstiefeln endeten, das kurze Schwert an der einen Seite und den Dolch an der anderen. Den runden Helm mit dem Nackenschild stülpte er sich eben wieder auf den schütter mit rotblondem Haar besetzten Schädel und verdeckte damit die dunkle Narbe, die quer über den Kopf auf die Stirn zulief.

 

Ihn als großgewachsen zu bezeichnen wäre übertrieben. Doch war er auch nicht klein. Alle seine Bewegungen liefen fließend und geschmeidig und trotz seines doch schon fortgeschrittenen Alters war er der Einzige auf der Burg, der sich an Kraft mit Bormel messen konnte.    

 

Mitten in den Blick Raumirs hob German die linke Hand ins offene Fenster, zeigte die Handfläche nach außen, kippte sie nach vorn und deutete mit dem Zeigfinger energisch nach unten. Er wandte sich ab, mit der Sicherheit einen unmissverständlichen Befehl übermittelt zu haben, bemerkte aber im Augenwinkel sehr wohl den Ansatz zu seiner Ausführung. Die übrigen Wachmänner verließen nicht überstürzt aber zügig den Innenraum der Toranlage. Rogar und Bormel erklommen die Treppe zum Wehrgang, der zum Torturm führte.

 

German wandte sich Arechma zu. »Wir sind bereit.« Er sah in klare braune Augen. Nicht weich und kastanienbraun schimmerten sie jetzt, wie zu Zeiten, wenn frohe Ausgelassenheit die Höfe und Kammern von Hohen Belmeringen erfüllte. Es war ein loderndes Gelbbraun. Die Wangen hatten sich wieder gerötet. Sie presste die schmalen Lippen aufeinander. Die Handflächen zusammengelegt wie zum Gebet wandte sie sich German zu.

 

»Bleibt uns eine Wahl?«

»Dürfen wir es zulassen, dass diese glückliche Verbindung in ihr Gegenteil verkehrt wird?« Er wusste, dass dies ihr Gedanke war.

»Wieviele Köpfe hat die Hydra noch, wenn wir diesen einen abschlagen?«

»Edle Arechma, Roggesau fällt an den Sohn und der ist zwölf.«

»Ich weiß, German. Aber Gwenda und ihr Bruder der Kardinal…«

»Man wird sich arrangieren.«

 

Sie hob den Blick zur reich mit farbiger Ornamentmalerei verzierten Kassettendecke des Raumes.

 

»Der Himmel sei mit uns, wenn wir einen Teufel von der Erde tilgen.« Sie murmelte es mehr als sie es sagte.

»Das Tuch edle Arechma«, mahnte German bestimmt. Er trat an die Tafel, nahm einen tönernen Krug, kam damit zur Fensternische zurück.

 

Unten im Hof regte sich weitere Bewegung. German trat etwas vom Fenster zurück, so, dass er nicht gesehen werden konnte aber das Geschehen im Blick behielt.

 

Der Herzog, der Graf und der Knappe erschienen bei den Pferden. Die Mägde und die Stallburschen traten ehrerbietig zur Seite, drückten sich an die Wand. Allein der gebeugte Schmied blieb breit und fest bei den Soldaten stehen und neigte ganz leicht den Kopf gegen die Herren, die an ihm vorbei eilten.

 

Einer der Knappen löste die Zügel des Schimmels. Der Herzog trat energisch, ohne zu zögern in den Steigbügel und schwang sich mit fliegendem schwarzem Haar in den Sattel. Der rotgelockte Graf tat es ihm gleich auf seinem Rappen. Artman trieb den Schimmel zurück, griff in sein Wams, rief ein paar Worte in Richtung Schmied, zog die Hand aus dem Wams und warf dem Mann ein dunkles Säckchen zu. Der breite Schmied fing es gewandt auf, wog es prüfend in der Hand. Der Herzog rief noch etwas und deutete auf die Burschen und Mägde. Der Schmied verneigte sich wieder, und das Gesinde an der Stallmauer folgte seinem Beispiel.   

 

German zog die Brauen zusammen. Er wandte den Blick zum Torwerk und sah Raumir neben dem offenen inneren Tor stehen. Der Wachführer blickte herauf. Ein kurzes dumpfes Rumpeln klang vom äußeren Tor her. Er warf einen prüfenden Blick hinunter. Hatten sie es bemerkt? Der äußere Sperrbalken war in sein Lager gefallen. Das äußere Tor konnte nun aus der Torkammer heraus nicht geöffnet, auch nicht aufgebrochen werden.  

 

Der Herzog und sein Gefolge trieben ihre Rösser zum inneren Tor. Raumir trat einen Schritt zurück und verneigte sich gegen den Verwandten seiner Herrin als dieser an ihm vorüber ritt, durch den spitzen, rot und blau bemalten Torbogen.

»Das Tuch, edle Arechma«, wiederholte German.

 

Die Fürstin griff mit der Rechten in ihren mit Goldfäden und Perlen bestickten Rock. Die Hand kam mit einem Täschchen heraus, das mit hellen Perlen besetzt war. Sie reichte es German. Er öffnete es flugs und holte ein Seidenbündchen heraus. Er entfaltete das große leichte Tuch von kostbar seidigem Glanz. Es schimmerte rot, blutrot.

 

»Wirf!«, zischte sie und nickte zum Fenster hin.

 

German knotete das Tuch an den Henkel des Kruges und schleuderte diesen aus dem Fenster. Wie ein flammendes Geschoß flog der Krug quer über den Burghof. Das seidene Tuch loderte hinter ihm her als ein feuriger Schweif. Zwei, drei Schreie: »Schau, da, das Signal!« kündeten davon, dass es gesehen wurde von den Knechten und Mägden.

 

Der Krug stürzte hinab und zerschellte mit einem scheppernden Knall am steinernen Sockel der Zisterne. Die Scherben tanzten klirrend über das Pflaster des Hofes und das Tuch legte sich wie ein Blutfluss über zwei Stufen des Burgbrunnens.

 

Raumir, Jemas, die Mägde und Stallburschen, der Schmied und drei der fremden Reiter wandten sich dem Brunnen zu. German sah die Mägde sich bekreuzigen. Der Schmied stand wie angewurzelt mit dem Säckchen in der Hand und starrte zum Pallas hinauf.

 

Die Reiter drängten ihre Pferde in die Torkammer. Der Knappe, der seinen Herzog zu dem Mahl begleitet hatte, warf einen bangen Blick zum Fenster hinauf. Er sagte etwas zu seinem Herrn und auch der wandte sich kurz um. Doch richtete er das Wort sogleich an die übrige Begleitung und wies auf das äußere Tor hin.

 

Raumir und Jemas schoben hinter den Gästen behände die beiden Flügel des inneren Tores zu. Vier weitere Leute der Torbesatzung eilten ihnen zur Seite. Jeder brachte eine Armbrust und einen Köcher voller Pfeile mit. Sie hoben den Riegelbalken in die gemauerten Lager zu beiden Seiten des Tores.

 

Aus der Torkammer tönte die scharfe Stimme des Herzogs. »Tor auf. Verdammt, macht das Tor endlich auf!«

 

Die Schützen verschwanden im Torhaus und erschienen im Wehrgang der Torkammer wieder. Wüstes, verzweifeltes Geschrei tönte aus dem Torhof.

Arechma trat ans Fenster. Soweit es die starken Mauern zuließen beugte sie sich hinaus.

 

»Hör Vetter!« Schrill gellte die hohe Stimme über den Hof. »Hör zu Artman! Nie wirst Du ein Heer gegen Hohen Belmeringen führen, hörst Du, Vetter? Nie!«

 

Der Herzog drehte sich im Sattel um und sah hinauf zum Pallas. »Laß dasTor öffnen Base, wir sind deine Gäste. Lass das Tor öffnen!«

 

Drei der Reiter stiegen ab, machten sich am äußeren Tor zu schaffen. Als einer plötzlich einen jähen Schmerzenschrei ausstieß, wandte sich Arechma ab, ging zur Feuerstelle und hielt die Handflächen gegen die züngelnden Flammen.

German schloss das Fenster.

 

Arechma wandte sich um und sah ihn mit festem Blick an. Er erwiderte ihn schweigend. Von drunten klang wüstes Geschrei herauf. Worte konnten sie nicht unterscheiden. Selbst jene nicht, die Artmann von Roggesau gegen den Pallas schleuderte. Sie ahnten ihren Inhalt. Das Geschrei verstummte. Arechma wandte den Blick zur Feuerstelle, atmete tief ein und zog die Augenbrauen zusammen, als litte sie einen unbestimmten Schmerz.

 

»Wir werden«, hob sie an und atmete wieder tief ein, so dass es wie ein Seufzer klang. German zog erwartungsvoll fragend die Stirn in Falten und sah sie an.

»Wir werden auf ihren Beistand nicht verzichten können.«

Er hob die Brauen und seine braunen Augen vergrößerten sich.

»Schelma?« fragte er leise.

Sie nickte.    

 

    

   

  

Ronsch

 

 

Es war ihm klar, dass er nicht der Erste sein würde um diese Zeit. Schon vom dämmrigen Tal aus, kurz nach der Brücke über den Rauschbach, hatte er das schwache Licht gesehen weit oben am Gemberg. Es hatte ihn beruhigt. Ein schönes Gefühl, erwartet zu werden, und in seiner Situation war es mehr als das. In diesem Herbst kam ihm das Hüttenwochenende sehr gelegen.

 

Die Nacht machte sich breit im Talgrund und nur die gewaltigen zerfurchten Felszähne, die hoch über der Alm in den Himmel ragten, schimmerten noch im roten Verglühen der Abendsonne. Er kannte den Weg. Jahr für Jahr war er ihn hinaufgestiegen oft mehrmals in einem einzigen Sommer.

 

Begleitet von den wuchtigen Akkorden der zweiten Tramelin-Symphonie aus dem CD-Spieler lenkte er seinen dunkelblauen Van in die Forststraße und schaltete auf der ansteigenden Trasse einen Gang herunter, wie er es immer getan hatte an dieser Stelle. Aufheulend zog die Maschine den Wagen die Schotterstraße hinauf. Die Reifen brachten lose Steine zum Knirschen. Nach den vier engen Serpentinen erreichte er den Sommerweg zur Hütte, der nach rechts abzweigte.

 

Eine schmale Einfahrt, wer sie nicht kannte, fuhr daran vorbei. Früher hätte man sie an einem runden blechernen Schild erkennen können, das darauf hinwies, dass es sich um eine Privatstraße handelte. Aber dieses Schild war an einem vermoosten Pfahl angebracht, der vor einer unbekannten Zahl von Jahren gut zwölf Schritt nach der Abzweigung in den Boden gerammt worden war und den jetzt ein Haselstrauch und junge Eschen umfingen. Von dort zog sich die Fahrspur etwa achtzig Meter schnurgerade den bewaldeten Hang hinauf.

 

Ronsch sah die drei Wagen am oberen Ende der Geraden und steuerte darauf zu. Sie standen in der kleinen Ausbuchtung der Fahrspur, ordentlich nebeneinander abgestellt, im Halblicht unter ausladenden Ästen mächtiger Fichten. Kalks roter Flitzer fehlte. Also war er mit Vertitsch in dessen Auto gekommen oder noch nicht da. Sie hingen immer schon enger zusammen als die anderen. Gemeinsam hatten sie das gleiche Fach studiert aber dann völlig unterschiedliche Laufbahnen eingeschlagen.

 

Hatte er sich wieder von Vertitsch fahren lassen? Ein Wunder, dass er sich in dessen Wagen setzte. Das angejahrte Harlop-Modell mit den altmodischen Doppelscheinwerfern und dem eckigen Heck war längst zum Markenzeichen des rundlichen, gemütlichen Vertitsch geworden. Das Auto machte einen vernachlässigten Eindruck, sogar hier im Halblicht. Vielleicht war es aber nur der Gegensatz, dachte Ronsch. Denn daneben stand eine große, blitzende Limousine.

 

Sollte Terry auch schon da sein? Der ruhige Terry. Er machte wenig Hehl daraus, dass er der Erfolgreichere war. Glasmann ausgenommen. Aber der kam seit sieben oder acht Jahren ohnehin nicht mehr, und seitdem wussten auch die anderen nicht wesentlich mehr über ihn, als was in den Wirtschaftsseiten der Zeitungen über ihn und seine Unternehmungen zu lesen war.

 

Wenn das Terrys neuer Wagen war, dann war er also früher losgefahren. Sie hatten noch vor einer Woche miteinander telefoniert. Ronsch hatte mit ihm diese Sache besprechen wollen, die ihm so fürchterlich auf der Seele brannte.

Bei allem Erfolg war Terry ein Mann, den das Schicksal hart geprüft hatte. Das Urteil solcher Leute, dachte Ronsch, wiege mehr als das irgendeines jener pseudoperfekten Hochglanzmenschen. Aber das Gespräch war zu hektisch verlaufen. Terry war ungewöhnlich kurz angebunden gewesen. Sie vertagten es auf die Hütte.

Den dritten Wagen, der am anderen Ende der Reihe stand, kannte er ebenfalls nicht. Das Kennzeichen war ihm fremd. Ein anderer Wanderer? Ein neuer Gast? Oder war das Kalks Neuerwerbung? Dafür war das Auto eigentlich zu mittelklassig. Ein roter Sportwagen. Ein Tajo. »Wer fährt dennso was«, murmelte er.


Ronsch parkte sein Großraumauto neben der blitzenden Karosse. Der gute Terry.  Ronsch blieb einen Moment sitzen, hörte das mitreißende Trameling-Finale. Es forderte den vollen Einsatz des gesamten Orchesters. Gewaltige Kaskaden. Die wuchtige Melodie passte in diese Umgebung, passte zur Dunkelheit des Waldes und den jäh aufragenden Bergen. Er betrachtete die eleganten Linien des Nachbarfahrzeuges. Design und Musik. Ausflüsse kreativer Köpfe. Welche Harmonie. Während seine Augen den edlen Wagen musterten, den bunten Pullover registrierten, der auf dem hellen Ledersitz im Fond lag, kehrten seine Gedanken zu Terry zurück.


Er hatte traumhafte Startbedingungen gehabt. Eigentlich hieß Terry Peter. Peter Keller. Papa Kellers Steuerkanzlei war seit Jahrzehnten eingeführt. Man brauchte sich nur hinter den Schreibtisch zu hocken und der Laden lief von alleine weiter. Der Junior aber hatte mehr getan. Er hatte ungeahnte Energien entwickelt. Heute arbeitete eine ganze Schar Steuerexperten für ihn. Er war in die Anlageberatung und wenig später auch ins Versicherungsgeschäft eingestiegen, woraus sich kräftige Geschäftszweige entwickelten. Er formte ein Consulting-Unternehmen daraus, das in aller Stille zu respektabler Größe wuchs.Der bescheidene ruhige Terry hatte ein kaum ermessbares Vermögen angehäuft. Der begehrteste Junggeselle, den keiner kannte.


Eines Tages, völlig überraschend, hatte er ihn angerufen. Eine Einladung zu einem Abendessen im Burgrestaurant, draußen vor der Stadt. Ein Dinner zu viert.

»Wundere Dich nicht. Du musst sie kennen lernen.«


Ronsch erinnerte sich sehr gut an diese kryptische Einladung. Lisa begleitete ihn damals noch. Lisa! Eine Stunde hatte sie damit zugebracht über ihre Garderobe zu entscheiden. Mindestens. Dann waren sie hinauf gefahren zu der Burg. Der Speiseraum befand sich im Erdgeschoß des großen Pallas, im alten Rittersaal. Nach dem gotischen Tor führten fünf Stufen hinab in den Saal. Gedämpftes Licht, uralte dunkle Gemälde schienen an den Wänden in das Gewölbe hinaufzuschweben. Kerzenlicht. 


Da saßen sie bereits, ein Traumpaar. Terry, hager, der dunkle Anzug maßgeschneidert unterstrich seine Drahtigkeit. An seiner Seite eine dunkelhaarige Schönheit. Eine temperamentvolle junge Frau in einem herrlich azurfarbenen Kostüm, das nur von ihren Augen überstrahlt wurde. Sie ließen Energie vermuten. Zusammen mit diesen sinnlichen Lippen, eine hinreissende Mischung. Sowas fühlte er jedenfalls. Ihr Name passte überhaupt nicht zu ihrer Erscheinung: Hildegard. Sie hätte Nicole heißen können oder Bettina. Nein, sie hieß Hildegard. Doktorandin der Biologie. 


Den beiden war es sehr ernst gewesen. Der Abend hatte nichts weiter zum Ziel als ihn, Ronsch, zum Trauzeugen zu gewinnen. Natürlich machte er es für die beiden. Es folgte eine Traumhochzeit. Sie bezogen eine klassizistische Villa, ein Schlösschen am Forlener See. Das Glück schien vollkommen. Ein hlbes Jahr nach der Hochzeit schloss sie die Arbeit ab. Sie trat eine Stelle in einem pharmazeutischen Unternehmen an. Damals hatte Terry noch von ihrem Ehrgeiz geschwärmt. Passte wohl zu seinem eigenen. Ein Töchterchen war gekommen. Verena. War wohl zu kompliziert geworden,  hatte er damals gedacht, als Terry sich plötzlich rar machte. Das Geschäft,  Termine in aller Welt. Als er wieder auftauchte, war er wieder allein. Sie hatte die gemeinsame Tochter Verena mit in eine neue Verbindung genommen.


Folgte die Ehe mit Angelika. Ronsch befand sich während der Trauung im Ausland, hatte die Neue später bei der Eröffnung einer neuen Kanzlei kennen gelernt. Eine Brünette mit strahlenden braunen Augen. Ein zupackender kräftiger Typ. Ihre elegante, weicheTaille und ihr klassischer Busen hatten ihm Ronsch sehr zugesetzt. Seine eigene Beziehung durchlebte damals eine »diffuse Intensität«, wie er sich das insgeheim selbst erläutert hatte. Es war aber nicht an ihm gelegen, dass Terry und Angelika so tragisch getrennt wurden. Es war der Tod. Nach vier Jahren und drei Monaten. Sie ging bitter zu Grunde. Krebs. Terry wäre fast untergegangen in seiner Verzweiflung.


Er stürzte sich in die Arbeit, fing sich wieder.

Nun war er seit etwas über fünf Jahren mit einer Engländerin liiert. Angy. Zweimal schon hatte sie ihn auf den Gemberg begleitet. Sie wollte auch diesmal mitkommen. Ein hellhäutiges zartes feenhaftes Wesen mit feuerrotem Haar und wasserblauen Augen.


Die Trameling-Symphonie verklang in Violinen und Flöten so silbern wie Wellenringein einem Mondlichtsee.


Er zog den Schlüssel aus dem Schloss und stieg aus. Stille umfing ihn. Die Baumwipfel über ihm ließen einen schmalen Lichtstreifen auf die Kiesstraße durchsickern. Er sah sich um.


Seit sechs Wochen fühlte er Anlass, sich hin und wieder umzusehen. Nichts hätte er lieber gehabt, als dieses Gefühl abschütteln zu können. Er drückte vorsichtig die Fahrertür ins Schloss, was ihm fast lautlos gelang,  und ging zum Heck des Wagens. Mit einem Klick, der ihm viel zu lärmend erschien und deutlich zwischen den warmen Wänden aus mächtigen Fichten hin- und her geworfen wurde, öffnete er die Klappe. Er griff sich die Bergschuhe, die in einer blauen Plastikfaltkiste standen und setzte sich auf die Ladekante. Während er das Schuhwerk wechselte, sah er beiläufig die Straße hinunter. Sein Blick blieb an der Einfahrt zum Parkplatzhängen. Mann oder Frau? 


Er sah genauer hin. Die Gestalt bewegte sich nicht. Nicht im Geringsten. Konnte ein menschliches Wesen so still stehen? Hatte es sich bewegt, jetzt? Es war eine Frau, ganz sicher. Kam sie näher?


Er band seine Schuhe zu, dann sah er wieder auf. Nein. Es war das Schild. Mit dem Strauch dahinter sah es täuschend nach Mensch aus. Ronsch schüttelte sich.

Sechs Wochen. Da es mit dem Loswerden nicht klappen wollte, wünschte er dieses Gefühl in den Tiefen seiner Seele, seines Seins oder was auch immer er als seine Personalität fühlte, wünschte es dort tief vergraben, zuschütten zu können mit anderen Gedanken und Gefühlen. Mit Arbeit, Büchern, Konferenzen, neuen Ideen, Kinofilmen, aktuellenSportberichten, politischen Nachrichten, Klatsch und Tratsch, kunterbuntem Gedankenmüll. Egal was. Es war vergeblich. Die Stimme, die Bilder, sie kamen immer wieder durch. Er musste sich mit dem Gedanken beschäftigen, dass es mehr als ein Gefühl war. Immerhin ging es auf klare, faktische Ereignisse zurück. Die waren nicht wegzudiskutieren. So wenig wie dieses Haus. Es hatte ihn magisch angezogen. Ihn und Lisa seine Frau. Und nun saß er in der Falle.

 

Ronsch war ein kräftiger Kerl. Knapp einsachtzig groß mit beeindruckenden Schultern,einer sportlichen Figur. Himmelblaue Augen, brünette Naturlocken. Er hielt sie kurz und benutzte eine Menge Gel, weil ihm die Locken irgendwie lächerlich, läppisch erschienen. Er aber wollte ernst genommen werden. Als er die ersten Fotos im Dangrow Magazin untergebracht hatte, glaubte er soweit zu sein. Dann folgten Paris Club und YOPO. Ein paar Anschlussaufträge läpperten sich zusammen. WORLD NEWS und Terrestic nahmen Reportagen ab. Bob Charlton, der Boss bei Terrestic, hatte ihn schließlich unter Vertrag genommen. Kein schlechtes Gefühl. Aber Ronsch wusste, dass er ein bunter Vogel blieb mit seinem verschmitzten Lachen, den träumenden Augen und der viel zu breiten Nase. Er wusste es, weil er es immer wieder mitgeteilt bekam.

Er brauchte nur seinen Namen zu nennen und die Leute begannen zu grinsen. Er hörte es am Telefon, las es auf Entfernung aus den Gesichtern, sah es durch Schaltergläser. Die Leute waren sofort fröhlich drauf. Der Name war nichts Besonderes: Ronald Schalk. Aber trotzdem war es so. Ronsch wollte ernst genommen werden. Er war ein fröhlicher Typ, aber Erfolg, das hatte ihm ein erfahrener Kollege eindrucksvoll dargelegt, Erfolg gründe auf ernsthafter harter Arbeit. Dazu gehöre ein richtiger ernsthafter Name. Einer wie Ronald Schalk?

Ronsch blieb lieber bei seinem Spitznamen, den er auch als Autorenpseudonym für seine Fotoreportagen verwendete. Und doch hatte er über die Begriffe gegrübelt, die der erfolgreiche Kollege benutzt hatte. Seine Arbeit machte ihm Freude, ja er erledigte sie mit einer ungebundenen Leichtigkeit, die mit dem Wort Spaß treffend beschrieben ist. Vermisste er den Ernst des Lebens?

Seit sechs Wochen vermisste er ihn nicht mehr. Seitdem hatte er eine Vorstellung davon, was das Wort »Ernst« zu umreißen in der Lage war. Aber er hatte keine Ahnung davon, dass dies noch lange nicht alles war.

Als er die Schuhe geschnürt hatte, nahm er den Rucksack aus dem Wagen, schulterte ihn und drückte die Heckklappe zu. Die Fernsteuerung am Schlüssel verriegelte die Türen. Er sah sich wieder um, aber diesmal suchte er nach dem Einstieg in den Weg.


Es gab keinen Wegweiser. Der Pfad gehörte nicht zu den offiziellen Wanderwegen. Es war ein vergleichsweise kleiner Personenkreis, der diesen Sommersteig austrat: Die Eigentümerfamilie der Hütte und diejenigen, die mit ihrer freundlichen Genehmigung dort Wochenenden oder Ferien verbringen durften. Dazu kamen noch jährlich ein paar Dutzend Wanderer, die, ob aus Unkenntnis oder mit Bedacht, diesen längeren und beschwerlicheren Weg zu den lombischen Seen wählten.


Ronsch ging auf das obere Ende der Geraden zu. Mit festen Schritten, die den Kies knirschen ließen. Er würde die Geschichte mit Terry besprechen. Oder vielleicht doch nicht? Es musste einen Ausweg geben. Auch Kalk war sehr wendig und belesen. Er hatte immer Einfühlungsvermögen gezeigt. Sein Verständnis der Welt könnte die Sache entzaubern, ihr eigenartiges Mysterium durch nüchterne Tatsachen ersetzen oder vielleicht wenigstens erklären? Mein Gott, wieso hing sich die Frau so an seine Fersen?


Als Ronsch den Waldrand erreichte, holte ihn Motorengeräusch ein. Er machte noch fünf, sechs Schritte bis er in der Deckung des dunklen Waldes verschwunden war und blieb dann stehen. Es könnte Stalky sein, dachte er.

 

 

 

Stalky und Carola

 

Die Maschine hörte sich nach einem mächtigen Diesel an. Zwei Scheinwerfer glitzerten durch den dämmrigen Wald. Jetzt bog der Wagen auf die Gerade. Ein hochbeiniger Geländewagen mit riesigen Reifen rollte über den knirschenden Schotter. Kein Zweifel, das war Stalky.  


Ronsch atmete erleichtert durch. Er trat wieder auf die Fahrspur hinaus. Stalky hat bestimmt wieder seine Carola mitgebracht, dachte er. Ein sympathischer Gedanke, der ihn wärmte. Ein unkomplizierter Kumpel von Frau. Er hatte oft das Gefühl gespürt, dass sie ihn mochte. Distanziert zwar, etwa so wie eine Katze Zuneigung fühlen lässt, auf gewissen Abstand bedacht, aber doch je nachdem...


Die Türen klappten. Es gab noch Licht genug, um den großen hageren Mann in gut sitzenden Blue  Jeans zu erkennen. Er trug ein braunes, ledernes Wanderblouson, die Füße steckten bereits in Bergstiefeln. Er stieg vom Fahrersitz, ließ die Tür zufallen und traf sich vor dem Heck des Wagens mit einer schlanken, sportlich kräftigen Frau, die auf der Beifahrerseite ausgestiegen war. Ihre Bewegungen liefen anmutig fließend, beinah wie ein Tanz. Sie trug schwarze Jeans, eine helle Bluse und streifte sich im Gehen einen hellen, sparsam gemusterten Fliespulli über den  dunkelblonden Lockenkopf. Auch sie ging bereits in Bergstiefeln.


»Hey Stalky!« rief Ronsch über den Parkplatz.

Stalky öffnete den Heckverschlag und wandte sich gemächlich um. »Hey Ronsch. Du bist noch da? Warte wir kommen mit.«

Ronsch erkannte sogleich den vertrauten Bariton mit dem leichten Timbre. Eine sympathische Stimme. Sie hatten ihm immer gern zugehört, egal was er vorzutragen hatte.


Die Frau wandte sich um.


Einen bangen Augenblick musterte Ronsch sie. Ein kleiner Schauer wollte seinen Nacken hochlecken. Ein bekanntes Gefühl. Aber als ihr Kopf, durch den Pulligeschoben, wieder auftauchte und sie ihre Haare zurechtschüttelte, siegte eine ältere Erinnerung, und er fühlte erneut Grund, durchzuatmen.

Sie hob die Hand, schwenkte sie hin und her und rief: »Hallo Ronald, warte wir kommen.«


Stalky holte einen riesigen dunkelgrünen Rucksack aus dem Laderaum, schwang ihn auf die rechte Schulter und schlüpfte etwas umständlich mit dem linken Arm durch den zweiten Tragegurt. Carola hing sich einen kleineren pinkfarbenen lässig auf die rechte Schulter. Stalky warf die Klappe zu, verschloss den Wagen und stiefelte Carola hinterher.


»Kalk und Vertitsch und Terry«, zählte Stalky laut auf als er an den anderen Karossen vorbeiging. »Und wer ist das?« Er nickte zu dem vierten Wagen.

»Keine Ahnung«, antwortete Ronsch.

»Mecky? Wollte doch auch kommen oder?«

»Mecky und so ein Wagen? Angemeldet ist er, samt Sybille«, rief ihm Ronsch entgegen.

»Na wunderbar«, sagte Carola schnippisch.

Stalky sagte etwas zu seiner Frau, leise genug, dass Ronsch es nicht verstand. Doch dann wandte er sich wieder ihm zu: »Die Sachen werden ja wohl alle oben sein«.

»Vertitsch wollte sich darum kümmern, dass der Benno alles raufbringt.«

»Hat ja meistens geklappt. Hoffentlich haben sie sich noch beherrschen können und nicht schon alles aufgefressen. Ich hab riesigen Kohldampf.«


Das Paar kam bei ihm an.

Carola fiel Ronsch um den Hals und küsste ihn auf die Wange. »Hey Ronald wie schön dich zu sehen.«

Er wollte die Berührung genießen, ihren Körper an seinem spüren. Doch plötzlich war dieses Gefühl wieder da. Er zuckte zusammen, drückte sie von sich.

»Hey, was ist los. Ich beiß doch nicht.«

Ronsch fühlte sich hilflos, schluckte und griff nun selbst nach ihr. »Carola nein, doch. Ich freu mich.« Er fasste sie um die Schultern und drückte sie an sich.

»Ronald«, sagte sie leise.

»Wie geht’s euch beiden so?« Er sagte es etwas zu bestimmt und zu laut. Er ließ sie los, kümmerte sich nicht um ihren Blick und ergriff Stalkys Hand.

»Es läuft so«, sagte der und ließ Ronschs Hand los. »Und du? Großer Künstler? Dick im Geschäft was? Kommt Laura nicht?«

Ronsch räusperte sich. »Laura ähm. Ne, keine Zeit leider.«

»Schade. Hätte sie gern mal wieder getroffen«, sagte Carola.

»Ihr seid doch noch zusammen oder?« fragte Stalky.

»Laura und ich? Natürlich. Wie kommst du...?«

»Geht doch ruck zuck heutzutage. Mal nicht hingeguckt, schon sind sie weg.«

»Guck doch mal weg«, rief ihm Carola zu.

»Da hast Du’s!« lachte Stalky und schlug Ronsch auf die Schulter. »Packen wir’s, sonst finden wir den Weg überhaupt nicht mehr.«


Carola ging los, stieg in den schmalen Weg ein, hinter ihr Ronsch, und Stalky folgte ihm. Der Weg wurde nach wenigen Schritten zu einem engen Pfad zwischen jungen Bäumen und niedrigen Sträuchern. Sie mussten hintereinander gehen.

»Was machen Eure Kinder?« nahm Ronsch die Unterhaltung wieder auf.

 »Oh Mann«, seufzte Stalky. »Unser Großer ist gerade dabei, sich die Karriere zu versauen. Verdammt noch mal, ich seh mich so in ihm. Warum müssen die Kids immer den gleichen Blödsinn machen?«

»Wieso? Welchen Blödsinn?«, fragte Ronsch.

»Na den wir auch gemacht haben. Sie machen es sich so schwer…«

»Na komm, Du bist doch glänzend durchgekommen.«

»Glänzend? Hast du den Schmalfuß vergessen, diesen Riesenarsch.«

Ronsch lachte auf. »Stalberg, das war kein Fehlpass das war illegal, das war eine Straftat. Ich werde dafür sorgen, dass Sie aus dem Spiel fliegen«, äffte Ronsch den strengen, knödeligen Ton des früheren gemeinsamen Lehrers nach.

»Jetzt ist er selber rausgeflogen, aber total. Und ich weine ihm keine Träne nach, ehrlich«, erwiderte Stalky finster.

»Was? Ist er...?« Ronsch blieb stehen und wandte sich zu Stalky um.

»Hast Du’s nicht mitgekriegt?«

»Was denn? Nein.«

»Gestorben.«

»Stell dir vor, zwei Jahre Ruhestand und Schluss, Ende« bestätigte Carola.

»Hab ich überhaupt nicht...« stammelte Ronsch. Er wandte sich wieder dem Weg zu und stapfte weiter hinter Carola her.

»Wird in Neuseeland auch nicht in der Zeitung gestanden haben«.

»War gar nicht da in letzter Zeit.«

»Wann hast du denn die Serie im Terrestic gemacht?«

»Ist doch schon ein Jahr her.«

»So olle Kamellen veröffentlichen die?« frozzelte Stalky.

Sie gingen eine Weile schweigend.

»Mein Gott der Schmalfuß«, hob Ronsch wieder an. »Wie is es denn passiert?«

»Autounfall«,erklärte Carola schnell. »Ist angefahren oder überfahren worden. Hast du es nicht gelesen? Und dann in den Burgbach geworfen worden.«

»Ist ja fürchterlich. In den Burgbach, wieso?«

»Wird nicht viel gemerkt haben. Soll ordentlich getankt haben, der Gute. Wie eh und je.«

»Mann, und so was wird auf  Kinder losgelassen?«

»Menschen«, sagte Carola trocken.   

»Scheiße«, erwiderte Ronsch. Er sah sich um. Stalky machte ein finsteres Gesicht und brummte: »Bin froh, dass ich das hinter mir habe.«


Der Pfad führte steil den Hang hinauf. 

Ronsch sah an Carolas schlanker Taille vorbei nach oben. Dort vorn schimmerte eine lichte Stelle im Wald. Im Dämmerlicht konnte er den Weg verfolgen, der sich in einigen Kehren den Berg hinauf wand. Sie näherten sich einem Bach. Jedenfalls hörte Ronsch Rauschen und Plätschern. Hinter sich vernahm er Stalkys Atem. In einer Kehre blieb er stehen und blickte auf die zurückgelegte Strecke. Deshalb musste auch Stalky anhalten.


»Na, was ist?« fragte er.

»Ne, alles klar«, brummte Ronsch und ging weiter. »Aber euer Sascha geht noch in unsere Schule?«


»Wirst es nicht glauben: der hockt im selben Klassenzimmer.«

»Gegenüber vom Zeichensaal, wo man auf das Café runterschauen kann?«

»Genau. Hast du auch nicht vergessen, was? Unser Café!«

»Gibt’s das noch?«

»Klar.Café Kolmart. Hat die Tochter übernommen.«

»Du bist bestens informiert«, staunte Ronsch.

»Zufall. Der alte Kolmart kam zu uns. Sollte verkauft werden. Wir hatten schon ein paar Interessenten. Aber dann hat der Schwiegersohn plötzlich Kohle locker gemacht.«

»Ist doch mindestens eine Mio. wert. Was macht der Schwiegersohn?«

»Der hat ein Ingenieurbüro. Es ging aber nur um paar Hunderttausend. Schwiegerpapa war in Schwierigkeiten.«

»Man sollte sich Schwiegersöhne aussuchen können.«

Stalky lachte auf. Auch Carola. »Die Zeiten sind vorbei, mein Lieber. Ist Deine Älteste schon soweit?«

»Ne. Siebzehn.«

»Ne sagst Du? Siebzehn!« Carola blieb stehen und wandte sich zu Ronsch um. »Da ist sie mittendrin, was glaubst denn du?«

»Tanja ist anders. Sehr überlegt, rational.«

»Na, du weißt vielleicht Bescheid«, sagte Carola. Sie ging weiter, stieg voran den Berg hinauf. »Sowas haben meine Eltern auch immer erzählt: Carola ist ganz anders. Die wird mal Karriere machen. Ha ha.«

»Mag ja sein. Aber Tanja, wirklich. Die ist wie ihre Mutter.«


Die nächste Kehre führte um eine scharfe Kante im Hang. Das  Plätschern schwoll an. Der Pfad lief in eine tief in den Berg geschnittene Rinne. Der Bach führte nicht viel Wasser. Aber das Wenige war laut genug, um jede Unterhaltung in seiner Nähe zu übertönen. Man hätte schreien müssen. 


Still schritt Ronsch weiter. »Wie ihre Mutter«, wiederholte er in Gedanken und murmelte: »In den Burgbach geworfen.«


Sie waren jetzt ganz vom Rauschen des Baches eingehüllt. Carola schritt kräftig aus. Da er auf dem steinigen Weg selbst seine Schritte mit Bedacht setzen musste, hatte er wenig Muse, ihren fließenden graziösen Bewegungen zuzusehen. Er wusste, dass sie in jungen Jahren eine Ausbildung zur Tänzerin genossen hatte. Stalky hatte das einmal erwähnt. Oder hatte sie es ihm selbst erzählt?Wahrscheinlich traf beides zu. Fakt war, dass es eine Freude war, Carola zuzusehen, egal was sie tat. Sollte auch Larissa…? Sie besuchte ohnehin bereits eine Kinderballettschule und stellte sich recht gut an. Er würde demnächst mit Laura darüber reden.


Laura. Er dachte an ihre letzte gemeinsame Wanderung. Wäre besser gewesen, sie wäre auch diesmal mitgekommen. Nun saß sie zuhause über dieser mysteriösen Geschichte.  Manchmal dachte er, es sei seine Story, genau das, was er erlebte. War sie es wirklich, die diese Frau erfunden und diese Hexe in die Welt gesetzt, in seine Welt gesetzt hatte? Wie kam sie nur auf ihre Gestalten und ihre Geschichten? Und ausgerechnet auf diese?


Blitzartig verfing er sich in einem Gedanken, der ihn fesselte: Existiert ein Gespinst von Geschichten, von Beziehungen und Verwicklungen, ein Archiv von im Grunde immer gleichen Handlungen und Ereignissen oder Mustern davon? Wer sich Zugang zu diesem Reservoir verschafft, hat alle Variationen zur Verfügung, alle Geschichten der Welt. Oder des Universums. Gleichen sich also alle Schicksale auf irgendeine Art? Nichts Neues unter der Sonne? Nichts Anderes im All der Möglichkeiten? Und wie bekommt man den Zugang dazu? Laura hatte ihn. Dessen war er sich plötzlich ganz sicher.

 

Schelma

 

Zwei Tagesritte durch das nordwestliche Hügelland von Belmeringen lagen hinter ihnen. Meist in scharfem Tempo hatten sie ihren Weg durch die Fluren des Herzogtums zurückgelegt. Sie durchquerten weite wilde Wiesen und passierten bestellte Felder, streiften durch ausgedehnte Wälder. Dabei führten die drei Reiter ein viertes und ein fünftes Pferd mit sich. Ein jedes wurde von einem der beiden Männer kontrolliert, die dem ersten folgten. Die reiterlosen Rösser liefen an langen Leinen nebenher. Der eine Braune trug prall gefüllte Packtaschen aus grobem grauem Stoff und hellem, fleckigen Leder, der andere lediglich einen Damensattel auf einer gelb und blau gewebten Teppichdecke.


Nun senkte sich schon wieder ein spätsommerlicher Abend über's Land. Der dritte ihrer Reise. Nach der letzten Rast waren sie scharf los geritten. Seit zwei Stunden ließen sie nun die schweißnassen Tiere im Schritt gehen.


Der gedrungene Reiter, der den beiden anderen eine Pferdelänge voraus ritt, lenkte sein Ross mit energischer Hand. Er war wohl das Gebieten gewohnt, diesen Eindruck hätte ein Beobachter gewinnen können. Seine kurzen Beine steckten in soliden langen Hosen aus braunem Leder, die Füße in Stulpenstiefeln. Den Oberkörper umspannten ein purpurrotes Wams und darüber eine leichte eisern schimmernde Brustwehr. Auf dem Kopf trug er eine dunkelbraune Lederkappe mit Nackenschutz, geschmückt von einer langen Fasanenfeder.


Bisauf das purpurrote Wams waren die beiden anderen ganz ähnlich gekleidet. Der eine trug ein grünes Obergewand unter der Wehr, der andere ein braunes. Alle drei waren bewaffnet mit Schwert und Dolch. Der Mann mit dem grünen Gewand hatte zusätzlich eine Armbrust auf den Rücken geschnallt und einen Köcher voller Pfeile dazu. Volles blondes Haar fiel auf seine Schultern und ein blondes Bärtchen verdeckte seine Oberlippe und verlieh seinem jungen Gesicht einen Hauch von Entschiedenheit.


Still zog die kleine Kolonne über ein Stück braun-grünes Heideland und folgte dem ansteigenden Weg in einen uralten Wald aus mächtigen Laub- und Nadelbäumen. Seit vielen Stunden hatten sie keine Behausung mehr wahrgenommen. Der Pfad schlängelte sich zwischen riesigen Buchen, Ulmen, Erlen, Eichen, Tannen und Fichten hindurch und zog sich auf eine Kuppe hinauf. Der weiche Boden verschluckte jeden Hufschlag. Nur das Schnauben der Rösser und das Rascheln des Laubes klangen durch den Wald. 


Der erste Reiter erreichte die Kuppenhöhe. Er hielt den Rappen an, wandte sich um.»Hier?«, fragte er.


Die beiden anderen hielten zu beiden Seiten von ihm. Der im grünen Gewand dehnte seine Arme und erwiderte: »Wie weit wird es noch sein?«

»Wenn ich German recht verstanden habe, weniger als ein Dutzend Meilen noch, wenn wir an die Hügel kommen. Und da sind wir jetzt. Wir sollten bald den See erreichen.«


»Die Rösser wittern noch nichts«, stellte der andere fest und strich sich über das blonde Bärtchen unter der schmalen Nase.

»Das habe ich auch gedacht. Deshalb wird es besser sein, wir rasten hier und ziehen morgen weiter.«

Der dritte Mann nickte nur, hob sein linkes Bein über den Sattelknauf und rutschte auf den Boden herab. Ebenso wortlos schlang er den Zügel seines Braunen um einen niedrigen Ast der nächsten Buche und wandte sich dem Packpferd zu, dessen Leine an seinem Sattel hing.


Durch das dichte Blattwerk gelangte nur noch wenig Licht bis zum Boden. Wolken verdunkelten zudem den Himmel. Der Dritte löste eine dunkelbraune Packrolle vom Rücken des Braunen, wuchtete sie sich auf die Schulter und musterte die nächste Umgebung.


»Dort zwischen den drei Stämmen«, wies ihm der Purpurträger die Richtung.

Der Dritte nickte und stapfte die paar Schritte zu dem Platz hinüber. Drei schlanke Buchen standen dort so zusammen, dass man zwischen ihnen das lederne Dach aufspannen konnte, um darunter ein Lager und eine Feuerstelle anzulegen. Hurtig machte er sich an die Arbeit und der zweite, der mit dem blonden Bärtchen unter der Nase und der Armbrust auf dem Rücken, glitt ebenfalls aus dem Sattel, um ihm zu helfen.


Der Anführer trieb sein Ross noch ein gutes Stück weiter den Pfad entlang, bis er den Geräuschkreis der beiden anderen verlassen hatte. Er hielt das Tier an, horchte in den Wald. Es tänzelte auf der Hinterhand zur Seite, stellte die Ohren und schnaubte vernehmlich. Er tätschelte das Pferd am Hals.


»Is ja gut Alter, musst dir nichts denken«, murmelte er. »Der kommt nicht her. Wir machen gleich Feuer an.«


Die beiden anderen schlangen indessen Seile um die Stämme und hingen das lederne Dach daran auf. Darunter bereiteten sie drei Schlafkuhlen und eine Feuerstelle. Sie sammelten trockenes Laub und Geäst.


Der Purpurne kam zurück. »Ist was im Busch dahinten. Der Knegs hat Witterung«, sagte er und rutschte ebenfalls aus dem Sattel. Ein Ächzen kam ihm dabei über die Lippen.

»Wir haben gleich Feuer«, brummte der Blonde während der Dritte schon den Feuersteinschlug, um die Lunte zu entflammen. Der Blonde und der im Purpurwams sammelten weiter im Halbdunkel des Waldes trockenes Moos und Geäst, gingen aber nicht weit von den Pferden und der Stelle ihres künftigen Lagers weg, grabschten am Boden nach Brennbarem. Jeder kam mit einem Arm voll zur Lagerstätte zurück. Der Rappe schnaubte vernehmlich und einer der Braunen wieherte und riss am Zügel. Auch die anderen Pferde tänzelten unruhig.


»Wölfe?« Der mit dem blonden Bärtchen streifte bei dieser Frage die sperrige Armbrustvom Rücken, spannte die Sehne und legte einen Pfeil in den Schaft. Er ging, dieWaffe im Anschlag, zu den Pferden und redete beruhigend auf sie ein. Hinter sich hörte er die Stimme des  Anführers: »Luchs oder Bär vielleicht. Aber wir sind so viele.«


Der Kleine mit dem Purpurwams löste die Schnallen seiner Brustwehr und hockte sich auf seinen Lagerplatz.

»Die Gäule beruhigen sich schon wieder«, warf der Dritte ein.

»Hätte nichts gegen einen frischen Braten einzuwenden«, sagte der Armbrustmann und tätschelte seinen Braunen. Er ging ein paar Schritte weiter in die Dunkelheit und lauschte.

»Nur springt das Wildzeug nicht selbst auf den Spieß«, witzelte der Purpurne.

»Hätten wir die Alte schon dabei…«, warf der Dritte ein und blies erneut die glimmende Lunte an. Da sprang ein Flämmlein auf und erfasste ein trockenes Eichenblatt, sprang von dort auf trockene Nadeln und dürres Moos.

»Ich verlass mich lieber auf mein Gewehr.« Der Armbrustmann kam zurück, ließ sich nieder und legte die Waffe neben sich ab.

»Im Dunkeln triffst Du auch nichts«, meckerte der Dritte.

»Herr German schwört auf sie«, sagte der Purpurmann.

Die Flammen züngelten jetzt über die gebrochenen Späne von kleinem Geäst.

»Was wird sie Arechma schon raten können, was der Graf der Mandelei nicht auch zuwege brächte?«

»Sehen, was sein wird.«

»Wenn’s wahr ist.« Der Mann mit dem Feuerstein schlug noch einmal. Wieder spritzten Funken ins trockene Moos. Noch ein Flämmlein loderte auf. 

»Sie hat einen guten Ruf«, erwiderte der rundliche Kleine. »Soll eine wahre Hexesein.«

»Bei der heiligen Maria, so was kann leicht daneben gehen«, ließ sich der blonde Jüngling mit der breiten Stirn vernehmen. »Wer weiß, was sie im Sinn hat.«

Der Feuermacher blies noch einmal sachte in die kleinen Flammen. Mit einem Mal loderten sie hell auf, fanden neue Nahrung, fraßen sich gierig durch das Kleinholz.

Der Feuermacher schrak zurück. Der neben ihm hockende Purpurträger wich so rasch zurück, dass er rücklings umfiel. Der Feuermacher richtete sich rasch auf und fuhr sich mit der Rechten über Gesicht und Bart, als hätte er sich die Haareversengt. Der Ältere rappelte sich wieder auf, kam auf die Beine und fuhr ihnan: »Was machst Du?«

Ob der plötzlichen Helle unter dem Dach und der schnellen Bewegung des Feuermachers hatte der Blonde unwillkürlich zu seiner Armbrust gegriffen. »He, was bläst Du da ins Feuerchen… für Teufelszeug?« fuhr er den Kumpel an.

»Nichtsverdammt, das lodert plötzlich...« Er sah den Älteren an.

Der Blonde blickte zu den beiden auf.

»Was hast Du gesagt?« fragte der Ältere den am Boden hockenden. Sie sahen sich in die Augen, alle drei, einer dem anderen.

»Ich?« fragte der Blonde. »Dass man nie…«

»Schweig still«, zischte der Alte, tat einen Schritt zurück vom Feuer weg und sah sich sichernd um. Sie schwiegen alle drei und sahen abwechselnd in die züngelnden Flammen und in die Finsternis des Waldes. Das Feuer fraß sich jetzt an größere Äste heran und schon knackte ein trockenes Stück Holz.


»Wir sind noch einen Tagesritt…« hob der Blonde wieder an.

»Ja,ich weiß, aber Du hast ja gesehen!« fuhr ihm der andere ins Wort.

DerFeuermacher wischte sich noch einmal über den kurzen Bart: »Ich hab doch nurden Feuerstein geschlagen«. Er flüsterte es mehr als er es sagte.

»Sieist eine wahre Hexe. Die Herrin braucht ihre Dienste«, wisperte der Ältere zurück.

»Wir könnten sie auch gebrauchen, he?« maulte der Blonde. »Was haben wir denn noch zum Beißen?«

»Sind noch versorgt. Ein Schlegel von dem Lamm.« Der Feuermacher kramte in einer der Packtaschen, die er vom Pferd genommen hatte.

»Meinst Du sie hält uns das Viehzeug vom Leib?« setzte er fort.

»Fängst Du schon wieder damit an. Hier ist es auch nicht anders als die letzten Tage. Mach nur das Feuer groß genug.«

»Da hast Du’s. Sie hat es schon gerichtet…« Der Ältere ließ sich ächzend wieder nieder, während der Feuermacher eine flache Pfanne in das Feuer schob und aus einem ledernen Beutel ein schlankes größeres Paket und drei kleinere herausnahm. Er wickelte eine Rübe daraus aus und einen Kanten hartes Brot. Aus dem großen kam ein Lammschlegel zum Vorschein. Gebraten war er schon. Der Feuermacher holte ein Messer hervor, schnitt von Brot und Rüben Stücke ab und verteilte sie an seine Kameraden. Auch vom Fleisch säbelte er ein paar Fetzen ab, legte sie aber in die Pfanne.

»Wir müssen sie nicht fürchten«, hob der Ältere wieder an. »Sie hat uns schon empfangen«, murmelte er vor sich hin.

»Wie meinst Du das?«, fragte der Feuermacher.

»Das Feuer Kleiner, das Feuer. Meinst Du das kannst Du so…«

»Dann hält sie auch das Viehzeug weg, meinst Du?«

»Und vor allem den Fluch.«

»Was ist, was machst Du«, schrie der Blonde jäh auf als nun eine Stichflamme hoch schoss, die Pfanne einhüllte und für Augenblicke fast bis zum ledernen Schutzdach loderte. Alle drei wichen vom Feuer zurück.


»Hast Du Fett ins Feuer geworfen, was soll das?« rief der Blonde. Der Ältere kicherte leise vor sich hin. »So ein Aberwitz, Fett!«

»Raumir, was kicherst Du?«, wollte der Blonde wissen.

»Fett?« wiederholte der Kommandant der Wache von Hohen Belmeringen und zog die Mundwinkel zu einem gepressten Lächeln auseinander. »Blut haben wir ins Feuer geworfen mein lieber Jermas.« Er sah ins Feuer und blickte dann zu Jermas, dem blonden Armbrustschützen auf und von ihm zu Forggel. Der löschte eben die Lunte auf einem Stein am Rand der Feuerstelle und steckte das Wollgeflecht samt dem Feuerstein sorgsam in sein ledernes Säckchen zurück. »Eine ganze Menge Blut haben wir ins Feuer geschüttet. Und das wird noch ganz andere Flammen bringen.«

Die beiden sahen ihn mit ungläubigen Augen an.

 

Der Mystik-Thriller UNUMSAGA von Hermann Engl wird fortgesetzt.

 

Guten Tag! Und viel spannendes Vergnügen mit dieser Leseprobe!

 

Kontakt:  

Hermann Engl

Seereisender und Autor

0049 15119335910

hermann.engl@t-online.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 




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